Mein Leben als Migrantin -
 
ein Bericht über meine Auswanderung nach dem Tod meines geliebten Mannes, trotz meiner Trauer
 
Vor einiger Zeit habe ich zufällig Erfahrungsberichte von Auswanderer gelesen und kam hinterher ins Nachdenken über meine eigene Auswanderung  aus Deutschland hier in die Schweiz, wo ich heute lebe. Ich dachte darüber nach, wie ich alles erlebt habe und wie es mir bei meiner Auswanderung ergangen ist. Ich bin nun eine Migrantin und hätte in meinem früheren Leben niemals geahnt, dass es mir einmal so en ergehen wird.
 
Die meisten Auswanderer, von denen ich in jenen Berichten gelesen hatte, erfüllten sich mit ihrer Auswanderung einen lang ersehnten Wunsch. Sie liessen mit ihrer Auswanderung in ihr Traumland für sich selbst einen Traum Wirklichkeit werden. Meine Auswanderung war nicht die Erfüllung eines Traumes, nein, ganz sicher nicht, denn es gibt diese traurige Vorgeschichte, welche  mir die Auswanderung bescherte.
 
In jungen Jahren  gab es einmal eine Zeit, da dachten mein verstorbener Mann und ich auch daran auszuwandern, nach Südafrika.
Doch nachdem ich mich eingehend mit der Politik des Landes befasst hatte, seinerzeit gab es noch die Apartheid, war das Thema schnell für mich erledigt.
 In meiner Familie gibt es  etliche Auswanderer, somit war ich in gewisser Weise mit der ganzen Thematik immer irgendwie konfrontiert und ich hörte von ihnen, wie es ist, ein Leben in einem anderen Land neu zu beginnen. Einige meiner nächsten Verwandten gingen nach Amerika, andere nach Schweden und sogar nach Südafrika. Sie leben seit Jahren dort, haben sich sehr gut integriert und tatsächlich eine neue Heimat gefunden.
 
Mein Mann und ich verbrachten unseren Urlaub mit Vorliebe in unserer deutschen Heimat, vornehmlich in der wunderschönen Lüneburger Heide, an der Nordsee, im alten Land und auch im Harz. Früher fuhren wir aber auch oft nach Holland, ein Land, in dessen Landschaft ich mich auf Anhieb schon beim ersten Besuch total verliebte. 
Mein Mann wäre im Urlaub am liebsten immer mit mir in die Berge gefahren. Er schwärmte mir oft vor, wie traumhaft schön es in den Bergen sei, dort möchte er gerne sein. Doch er schaffte es leider niemals, mich von der Schönheit der Bergwelt zu überzeugen, geschweige denn zum Urlaub dort zu überreden. Mein Mann sagte oft, das die Berge sein Traum wären.
Meine Liebe galt einfach dem flachen Land, ich hatte Angst, dass mich Berge einengen könnten, deshalb beteuerte ich immer wieder, dass mich nichts und niemand jemals in die Berge bringt, auch nicht für alles Geld der Welt. So blieben wir in Deutschland.
Ja, ich liebte meine deutsche Heimat so sehr,  war dort zufrieden und sehr, sehr glücklich, bis zu jenem Tag, der alles für immer veränderte.
Es war der Tag, an dem mein Mann in eine andere Welt gegangen ist.
 
Und dann kam alles ganz anders…
 
Als ich meinen jetzigen Mann damals einige Zeit nach dem Tod meines verstorbenen Mannes kennenlernte, ahnte ich nicht einmal annähernd, welcher Stein nun ins Rollen kam. Ich wusste ja nicht einmal, wo dieser Mann, den ich durch die Trauer kennen gelernt hatte, wohnte. Ehrlich gesagt interessierte mich das damals auch nicht im geringsten, denn eine neue Beziehung war überhaupt nicht denkbar. 
Mein jetziger Mann wurde zunächst nur ein wichtiger und guter Freund, mit dem ich über meine Trauer reden konnte, der mich verstand, weil ihm gleiches schreckliches Schicksal widerfahren war! Auch ich wurde eine enge Vertraute für ihn in seiner Trauer - mehr nicht!
 
Wir verstanden uns in unserer Trauer, sprachen über unsere liebsten Verstorbenen, über unsere Gefühle ob unseres Verlustes, erzählten von unseren unsäglichen seelischen Schmerzen und wir brauchten uns unserer Tränen nicht schämen. Ja, auch ich war für ihn eine gute Freundin geworden.
Der Gedanke an eine neue Beziehung war damals für uns beide aufgrund unserer Trauer wirklich absolut tabu. Wie hätten wir in unserem Schmerz auch nur an eine neue Beziehung denken können? Nein, dass war zu der Zeit wirklich völlig ausgeschlossen und absolut tabu!
Für mich stand nach dem Tod meines Mannes fest, dass ich niemals eine Beziehung zu einem anderen Mann eingehen würde.
 
Nach etlichen Wochen und vielen Mails, fragte ich meinen Leidensgefährten in einer Mail, wo er denn eigentlich wohnt.
Er schrieb mir einfach nur den Namen seines Ortes. Ja, damals war noch alles sehr verworren, die Trauer sass zu tief und unsere Kommunikation bezog sich fast ausschliesslich auf die Trauer. Jedenfalls als ich den Namen des Ortes in seiner Antwort las, dachte ich so bei mir, der Schreibweise nach wird der Ort wohl im Osten unseres Landes liegen, vielleicht sogar nahe an der tschechischen Grenze.
 
Und dann kam alles ganz anders…
 
Mein damaliger "Schreibfreund" und ich fanden im Laufe der Zeit durch unseren regen Mailaustausch irgendwie  immer mehr zueinander und stellten auch immer mehr an gemeinsamen Interessen und Lebensansichten fest. Eines Tages telefonierten wir dann das erste Mal zusammen. So erfuhr ich von ihm, dass er gar nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz, mitten in den  Alpen lebt. Ehrlich gesagt, wunderte ich mich  über seinen Akzent. Aber als ich hörte, dass er mitten in den Bergen lebt,  war ich zunächst erschrocken und dachte, dass gibt es doch wohl nicht, ausgerechnet mitten in den Bergen! Und als ob der Gedanke an die Berge allein nicht schon ausreichte, erzählte er mir obendrein, dass in seinem Kanton, seine Heimat über 40 viertausend Meter hohe Berge stehen - meine Güte!!!
 
Und wir planten uns persönlich kennen zu lernen und uns gegenseitig zu besuchen... Das konnte ja lustig werden, denn mit Bergen hatte ich doch absolut NICHTS am Hut!
Na ja, einen Anstandsbesuch in den Bergen würde ich sicherlich irgendwie überstehen, aber mehr ganz bestimmt nicht!
Ich dachte immer wieder an meinen verstorben Mann, wie gerne wäre er in die Berge gegangen... aber ich???
 
Wieder muss ich sagen: „ und dann kam alles ganz anders!“
 
Mein neuer Freund  und ich  verstanden uns unglaublich gut und dachten irgendwann, nach etlichen gegenseitigen Besuchen und vielem mühsamen hin und her, an eine gemeinsame Zukunft.
Immerhin trennten uns gute 800km und da war es nicht gerade einfach, sich mal eben schnell zu besuchen.
Und ob eine neue Beziehung überhaupt funktionieren würde, konnten wir eh nur im gemeinsamen Alltag feststellen.
Nur diese Geschichte hatte für mich einen Haken: Wenn wir tatsächlich ein neues Leben beginnen wollten, musste ich bereit sein, Deutschland zu verlassen....
Konnte ich das wirklich, wo ich doch so heimatverbunden war?
 
Mein jetziger Mann war aus vielen Gründen fest an seine Heimat gebunden und ich war in Deutschland an nichts mehr gebunden. Ich hatte mit dem Tod meines Mannes alles verloren, was in meinem Leben wirklich zählte. Mein Mann war ein Teil von mir und den gab es nun nicht mehr.
 
Mein neuer Freund und ich diskutieren wochenlang immer und immer wieder über dieses Thema des Zusammenlebens. In mir endlos erscheinenden und schlaflosen Nächten dachte ich immer und immer wieder über alles nach und hörte tief in mich hinein, fragte mich selbst immer wieder, ob ich alles richtig mache und ob ich in meinem Alter tatsächlich alles was mir im Laufe vieler Jahre in meinem deutschen Heimatland lieb und teuer geworden ist, alles, was ich mit meinem verstorbenen Mann gemeinsam erschaffen und aufgebaut hatte, alles was mich mit meinem verstorbenen Mann verband, aufgeben soll, um noch einmal ganz von vorne anzufangen? Und dass in einem mir bis dato völlig fremden Land, mit einer mir noch recht fremden Familie und obendrein mitten in den Bergen, die ich nie im Leben sehen, geschweige denn um mich haben wollte. Was würde mein geliebter verstorbener Mann dazu nur sagen?
Oft hatte ich sein schelmisches, liebevolles Lächeln vor Augen und ich hörte wieder klar und deutlich wie er kurz vor seinem Tod zu mir sagte: "Nati, denk nicht immer nur an mich, tu etwas für dich, sieh zu, dass du hier rauskommst!"
 
Mein Herz sagte plötzlich mit wirklicher Überzeugung ja! Und ich hörte schlussendlich auf mein Herz, denn glücklich kann man doch nur sein, wenn man seinem Herzen folgt. Und überhaupt, ich wusste, mein verstorbener Mann wollte mich immer glücklich wissen und er wollte immer mein Lachen sehen, vielleicht würde ich mein Lachen in den Bergen wiederfinden.
 
Eines Tages war ich so weit und hatte nach langem inneren Hin und Her meinen Entschluss zum neuen Leben in den Bergen gefasst! Ich hatte sehr gründlich über alles nachgedacht und eine Entscheidung getroffen, die ich unter grossen Schmerzen treffen musste. Ja, ich wollte diesen schweren Schritt in eine neue Zukunft, in ein neues Leben riskieren, mit dem Menschen, den ich inzwischen sehr lieb gewonnen hatte. Ich war dazu bereit, alles in Deutschland aufzugeben, bis auf einige wenige persönliche Habseligkeiten, die ich mitnehmen wollte, an denen ich ganz besonders hing. Es war leider unmöglich mein ganzes Hab und Gut mitzunehmen, so sehr es mich auch schmerzte. oh ja, auch dieses "alles zurück lassen" tat unendlich weh und war grausam. Ich weiss noch, als ich zum letzten Mal in der Haustür stand, mich noch einmal umdrehte, den Schlüssel ins Schloss steckte und dachte, das war es, für immer und alle Zeit. Es war wie ein zweites Mal das Sterben meines geliebten verstorbenen Mannes zu erleben. 
 
Ich musste sehr viel von meinem Leben dort zurück lassen, mein Lebensgefährte war komplett eingerichtet, der Haushalt existierte weit über 20 Jahre und dann waren da die Kinder meines Lebensgefährten, die ihre Mutter verloren hatten. Ihnen konnte ich nun nicht noch die komplette Wohnung mit meinem Hausrat entfremden.
Es war aber auch sehr wichtig für mich, wenigstens  ein paar Erinnerungen an mein wundervolles, doch nun leider der Vergangenheit angehörendem Leben, mit mir zu nehmen. In diesen Kleinoden, die mich hier in die Schweiz begleiten konnten, steckt so viel Erinnerung.
 
Ja, es war wirklich ein sehr schmerzhafter und schwerer Entschluss für mich, doch  ich wusste, ich folgte meinem Herzen und somit der Liebe, dem Gefühl meines Herzens, in dem Bewusstsein, dass wir alle nur dieses eine Leben haben und wir dieses nur jetzt und heute wirklich leben können! Und ausserdem war mir längst klar geworden, dass Heimat dort ist, wo die Liebe ist. Mein Freund und seine Kinder brauchten mich!
 
Vielleicht denken einige Leser jetzt, ach, die Schweiz, das ist ja auch nicht so weit weg und ähnelt Deutschland.
Hm, in gewisser Weise stimmt es sogar! Aber dennoch ist vieles total anders.Sicherlich ist meine Auswanderung in die Schweiz nicht mit der Auswanderung nach Asien, Afrika, Amerika oder wer weiß sonst noch wo, zu vergleichen.
Und trotzdem war es wirklich  ein verdammt schmerzvoller Entschluss und riesiger Schritt für mich, in meiner Situation, nachdem ich meinen geliebten Mann verloren hatte und noch richtig fest in der Trauer steckte. Obendrein war es ja auch recht abenteuerlich, denn erst die Zukunft konnte mir zeigen, was mich tatsächlich hier in meiner neuen Heimat alles erwartet, wie ich mit dem Land, den Menschen klar komme und ob unsere Beziehung aus der Trauer geboren, dann im Alltag auch wirklich funktionierte. Was dann, wenn es nicht klappen würde? Ich hätte nie mehr zurück nach Deutschland gekonnt, weil ich alles komplett aufgegeben, aufgelöst und verloren hatte.
 
Nun hatte ich noch viele Behördengänge zu erledigen. Alle Bank-Konten mussten gekündigt werden, beim Einwohnermeldeamt abmelden und hier eine Aufenthaltsbewilligung beantragen. Diese Aufenthaltsbewilligung war für mich das Allerschlimmste, denn erst jetzt begriff ich, realisierte ich,  ich bin hier eine Migrantin! Oh ja, plötzlich wurde mir klar, ich war nun eine Ausländerin! Darüber hatte ich im Vorfeld gar nicht nachgedacht. Es war alles so turbulent, da war noch unsere Trauer, dann Druck in der Familie und vieles mehr.
Jetzt war ich plötzlich eine Ausländerin und irgendwie war dieses Wissen ein sehr unangenehmes,  unbehagliches Gefühl.
 
Tja, doch ein Zurück gab es nun nicht mehr, ich hatte mich für diesen  neuen Weg entschieden. Ein lieber Mann mit seinen zwei Kindern und ihrem kleinen Hund warteten auf mich und meine treue Hündin Lissy.
 
Glücklicher Weise kann ich sagen, ich habe bis heute meinen Schritt, aus Deutschland auszuwandern, nicht eine einzige Sekunde bereut.
Ich lebe hier im wunderschönen Kanton Wallis, umgeben von vielen, im internationalen Schneesport berühmten und begehrten Skigebieten, im weiten Rhonetal inmitten von unzähligen Weinbergen und tatsächlich 43 Viertausender, die ich inzwischen allesamt liebe. Und noch etwas, diese zuvor von mir so gefürchteten Berge sind längst MEINE Berge geworden, ohne die ich nicht mehr sein möchte. In ihrer Umgebung fühle ich mich beschützt.
Selbst das Klima ist hier total anders als in meiner ehemaligen Heimat in Deutschland.
Wir wohnen hier in einer sonnenreichen Region, mit gut 300 Sonnentagen im Jahr. Es herrscht mediterranes Klima, vielmals ist es zu trocken. Es gibt oft wochenlange Trockenperioden, wo nicht mal ein Tröpfchen Regen fällt. Vielfach kann man sehen, dass es oben auf den hohen Berggipfeln regnet, doch bis zu uns ins Tal hinunter kommt der Regen nicht. Die Luftströmung unseres Rhonetals hält den Regen vielmals fern. Unsere Gegend wird auch das Spanien der Schweiz genannt, so lass ich es in etlichen Büchern über meine neue Heimat. Am meisten begeistert bin ich immer wieder im Frühjahr, wenn alles blüht und zu neuem Leben erwacht. Wer mag den Frühling nicht? Aber bei uns hier ist er noch einmal um vieles schöner. Der Flieder z.B. blüht schon Mitte April. Die Vegetation ist aufgrund des Klimas viel, viel weiter als in Deutschland. Schön anzusehen ist eine vielfältige Blütenpracht. Ich liebe dann die bereits spürbar warme Luft und Sonne, doch oben in den Bergen herrscht weiterhin noch immer tiefster Winter. Man sieht die dicken Schneemassen auf den Gipfeln, im Hintergrund ein unglaublich tiefblauer Himmel, das sieht wirklich irre toll aus. Einmal fuhren wir Mitte März zu Besuch in meine alte Heimat, wir wollten eine Woche dort verbringen, doch aufgrund der Kälte dort, sind wir zwei Tage später wieder schleunigst zurück hierher in die Schweiz gefahren. Hier sassen wir bereits jeden Abend, bis in die Nacht hinein nur im T-Shirt auf der Terrasse - in Deutschland war unser Auto am anderen Morgen bei minus 4 Grad eingefroren und vereist.
 
Eine andere heftige Hürde war die Sprache  hier in meiner neuen Heimat. Mein neuer Wohnort liegt in der französisch sprechenden Schweiz. Was das für mich tatsächlich bedeutete, wo ich nicht ein einziges Wort außer "Merci" verstand, musste ich schneller erfahren als mir lieb war. Einmal, ich wohnte noch nicht lange hier, da war ich zu einem kleinen Spaziergang allein unterwegs und hatte mich total verlaufen. Ich wusste nicht mehr, auf welchem Weg ich nach Hause kam. Natürlich hatte ich mein Handy zu Hause vergessen!
Mehrmals versuchte ich mich bei Spaziergängern nach dem Weg zu erkundigen, doch wen ich auch ansprach und fragte, er verstand mich nicht, denn er sprach kein Wort Deutsch. Verzweifelt versuchte ich es mit englisch, denn das spreche ich fliessend, aber hier spricht es kaum jemand und die Wanderer die ich traf zuckten nur mit den Schultern und sagten:“ Je suis désolé, je ne comprends pas…“ das verstand ich damals nicht– heute weiss ich, es heisst so viel, wie: "es tut mir leid, ich verstehe nicht".
Irgendwie fand ich dann natürlich schon nach Hause, aber man muss es erlebt haben, um nachvollziehen zu können, wie verloren ich mir vorkam und wie ich mich damals fühlte.
 
Von den vielen Schweizer Dialekten will ich gar nicht erst reden. Auch da verstand ich im Anfang so gut wie überhaupt nichts.
In Deutschland wissen nicht viele Leute, dass es hier bei uns in der Schweiz sicherlich genauso viele Dialekte gibt, wie in Deutschland. Ich schwor mir, ich will und werde das alles lernen. Ich werde Französisch und Schwyzertütsch mit allen Dialekten lernen, das war mein eiserner Wille. Mit Hilfe von BBC  lernte  ich  via Internet zunächst tagtäglich viele Stunden französisch und ich hörte bei allen Gelegenheiten nur noch Schweizer Radiosender, um der Schweizer Sprache zumindest vom Gehör her mächtig zu werden. Ich stopfte meine Freizeit voll mit allen Informationssendungen, Nachrichten, hörte Lieder in Schweizer Sprache, begann Bücher in Mundart zu lesen und es funktionierte unglaublich schnell. Tatsächlich lernte ich wirklich innerhalb eines knappen Jahres ALLE Schweizer Dialekte zu verstehen, wobei für mich der schwierigste Dialekt der Oberwaliser Dialekt war.
 
Inzwischen ist es mir egal, ob wir im Baselbiet sind,  im Oberwallis oder im Bernbiet, Luzern, Zürich oder sonst wo hier in der Schweiz, ich merke nicht mehr bewusst, dass die Menschen dort nicht meine Sprache sprechen, denn ich verstehe und höre die Schweizer Sprache als sei ich mit ihr aufgewachsen und ich liebe diese wunderschöne Sprache, sie ist wie Musik in meinen Ohren und die Melodie meines Herzens.
Doch sprechen tue ich nicht einen Dialekt, denn ich fände es anmassend, eine Mutter/Heimatsprache nachzueifern, weil ich denke es steht mir nicht zu, ich bin nicht hier geboren. Aber...nebenbei bemerkt, ich liebe es in Schwyzertütsch zu fluchen…sorry, aber Koppvertelli und Koppvertoori nochmal...auch das Fluchen ist doch manchmal wichtig!
 
Mein Französisch ist noch nicht perfekt, aber verstehen tue ich alles und im täglichen Leben komme ich inzwischen sehr gut mit der französischen Sprache zurecht. Ich tätige alle meine Einkäufe, mache Dates mit Freundinnen und Behörden ab und kann mit meinen neuen Freunden und Freundinnen im gemischten Chor auf Französisch kommunizieren. Ich lese sogar Bücher in französischer Sprache.
 
Trotz allem Hindernissen und anfänglichen Schwierigkeiten hatte ich das erste Mal in meinem ganzen Leben das Gefühl, ich sei wirklich Zuhause, hier gehöre ich hin! Um die Mentalität der Menschen hier besser zu verstehen, denn es ist wirklich doch eine ganz andere Mentalität und Kultur als in Deutschland, habe ich alle möglichen Geschichtsbücher verschlungen über die Schweiz, vornehmlich über meinen Kanton. Ich wollte die Menschen um mich herum in ihrer ganzen Art und Weise, in ihrem Tun und Denken verstehen und nur die Vergangenheit dieses Landes konnte mir Aufschluss darüber geben.
 
Ich liebe inzwischen nicht nur dieses, MEIN  LAND, sondern auch all die Menschen hier. Ihre Art, ihre Mentalität, die oft etwas rau ist, aber dennoch so herzlich und warm und vor allem ehrlich berührt immer wieder mein Herz. Es sind MEINE Schweizer geworden, die mir tief ins Herz gewachsen sind! Ich  achte und ehre ihre Sitten und Gebräuche und ich bin so stolz hier leben zu dürfen. Ich persönlich empfinde die Menschen hier aufrichtiger und ehrlicher als die Mentalität vieler Deutscher. 
Ja und ich hege eine große Bewunderung und Hochachtung für dieses liebe Volk aus einem noch ganz anderen Grund:
Es ist meine stille Bewunderung für all die Finessen in der Technik, in der Landwirtschaft und somit auch und vor allem, die Bezwingung der Berge. Es lässt sich nicht annähernd beschreiben, wie und was sich die Menschen hier einfallen ließen, um das Land in und an den Bergen, bis weit hoch oben, urbar zu machen und mit einer gut ausgeklügelten Infrastruktur zu versehen. Früher mit einfachsten Mitteln, um an den vielmals sehr steilen Berghängen wunderschöne Ortschaften mit kompletter Infrastruktur und wirtschaftlicher Versorgung, sogar Bahnlinien zu errichten. Die Menschen sind trotzallem unglaublich bodenständig und bescheiden geblieben. Mit den Worten "das Licht unter den Scheffel" stellen, lässt sich diese Mentalität nur ein kleines bisschen beschreiben. "Meine Schweizer" können wirklich etwas und haben sehr grosses geleistet und vollbracht. Ich lebe in einem souveränen Staat mit einer direkten Demokratie. Vier Sprachen werden in diesem Staat gesprochen und die Landschaft gleicht einer Märchenlandschaft.
 
Für mich selbst hatte ich schon bei meiner Entscheidung hierher zu ziehen, den Entschluss gefällt, alles auf mich zukommen zu lassen, erst einmal nur zuschauen, wie was geht, gehandhabt wird und dann alles anzunehmen, es so zu tun und so zu leben, wie es hier bei den Einheimischen üblich ist.
 
Natürlich gab es auch Vieles, was mir seltsam vorkam und mich verwunderte. Andere hier übliche Gewohnheiten brachten mich im Anfang oft nicht nur zum Staunen, sondern zum Schmunzeln. Ich musste mir nicht selten ein Lachen verkneifen. Dann stellte ich mir einfach vor, wie oft die Schweizer wohl ihren Kopf über mich, über unsere deutschen Gewohnheiten schütteln würden, wie seltsam ihnen unser typisch deutsches Verhalten in manchen Dingen wohl vorkommen muss. Mir wurde immer bewusster, dass es zwei ganz verschiedene Kulturen sind. Aber niemals hätte ich mir angemaßt, ihre Lebensgewohnheiten in Frage zu stellen, überheblich zu sein und zu kritisieren.
 
Dieses neue Leben war wirklich nicht immer leicht für mich. Hinzu kam, dass ich teilweise Gewohnheiten ablegen musste, mit denen ich über vierzig Jahre vertraut war, die zu mir und meinem Leben gehörten, mir einst so lieb waren. Mir war klar, dass ich hier eine Ausländerin bin und mich den Gepflogenheiten anzupassen hatte, wenn ich hier glücklich werden wollte. Natürlich war in der ersten Zeit meines Einlebens obendrein die Trauer noch sehr präsent, oft kam Angst hinzu, ob ich tatsächlich all diesen neuen Anforderungen gewachsen war und würde ich diese Sprachbarriere wirklich überwinden? Aber wo ein Wille, da ist auch ein Weg und nur die Liebe siegt!
 
Nur wenige Monate nach meinem Umzug hierher tat ich einen weiteren Schritt, um mich noch mehr zu integrieren. Da ich Zeit meines Lebens immer irgendwie der Musik verbunden war, trat ich dem gemischten Chor unseres Ortes bei, welches allerdings aufgrund der französischen Sprache noch einmal eine große Hürde für mich war. Aber ich wagte diesen Schritt, um neue Freunde zu finden und mich am kulturellen Geschehen zu beteiligen, somit auch noch schneller mit der französischen Sprache zurecht zu kommen. Im Anfang funktionierte unsere Verständigung vielmals nur mit Händen und Füssen und etliches blieb dann schlussendlich doch unverstanden oder löste gegenseitig schallendes Gelächter aus. Es war wirklich oftmals so unglaublich lustig, was aufgrund von Verständigungsschwierigkeit so an den Tag kam. Heute habe ich mit der Verständigung absolut keine Probleme mehr. Und ich habe dort im Chor viele neue Freunde gefunden, wirklich herzliche Freundschaften geschlossen. Zum Glück war es mir vom Himmel geschenkt, all ihre Herzen buchstäblich im Sturm zu erobern und ich bin sehr stolz, dass ich hier im Ort sehr gern gesehen und wirklich überall liebevoll aufgenommen werde. Wann immer es mir möglich ist, beteilige ich mich auf verschiedene Weise bei örtlichen Veranstaltungen (heiß begehrt sind vor allem immer wieder meine Backwaren/Kuchen, Kekse etc.)
 
Mit grossem Spass blogge ich gelegentlich mit vielen Lesern einer regionalen Zeitung.
Ich befasse mich mit der Politik dieses Landes und ich war zu meinem grössten Erstaunen und riesiger Freude zu einem Apéro mit den sieben Schweizer Bundesräten eingeladen (in Deutschland ist es mit einem Sektempfang bei Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundeskanzleramt vergleichbar). Auf diese Weise lernte ich in sehr interessanten, privaten Gesprächen Didier Burghalter, Doris Leuthard, Michele Calmy-Rey, Ueli Maurer, Simonetta Sommaruga, Eveline Wittmer - Schlumpf und Johann Schneider -Ammann, persönlich kennen. Auch wenn sich diese Politiker an mich vielleicht nicht mehr erinnern werden, für mich bleibt es ein unvergessliches Event.
 
Ja, ich denke, (so lapidar der folgende Satz auch klingt - früher hasste ich es ihn zu hören), aber ich kann sagen:
" Ich bin angekommen!"
Ich bin dort angekommen, wo mein wahres Zuhause ist, wo meine Liebe hingehört, wo ich geliebt und auch verstanden werde und wo meine Seele schon längst Zuhause war.
Meine Seele erzählte früher viele Geschichten in meinen Gemälden auf Leinwand, von den Bergen die ich bis dato nie zuvor gesehen hatte.
Meine Auswanderung war für mich unter besagten traurigen Umständen ein riesengrosser Schritt in ein kleines, mir völlig unbekanntes Land, dass nicht sehr weit von Deutschland entfernt ist.
 
Dieser, mein Neuanfang gleicht einem Wunder, nach allem, was ich durch Tod und Trauer erlebte. Es ist eine Auferstehung gewesen und dieser Neuanfang war noch lange Zeit immer wieder mit vielen traurigen Momenten, Sorgen und Ängsten verbunden.
 
Ich habe eine neue Heimat und ein neues Zuhause gefunden, in einer liebevollen Familie, unter lieben Mitmenschen, in einem wunderschönen Land, das inzwischen mein Herz und meine Seele fest erobert hat! Hier möchte ich bis an mein Lebensende bleiben und hier möchte ich auch zur letzten Ruhe gebracht werden, hier bin ich noch einmal sehr glücklich geworden.
 
In diesem Sinne
herzlichst
Nati Merlin
 
 

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